zurück
Druckfassung(pdf)




Nichtlineare Lebensläufe

- oder die Kreativität des Ver-rückten

(Vortrag, gehalten an der HSA Luzern, an der Diplomfeier vom 29. 9. 2005)

von Paul Riniker


Sehr geehrte Damen und Herren,

Wenn ich als Kind emotional nicht so reagierte, wie man es von mir erwartete, so fragte man mich und fragte ich auch bald mich selbst: „Spinnsch ächt jetz?”. Ich hatte Angst, dass ich nun auch einer von denjenigen sei, von denen man sagte, sie tickten nicht richtig im Kopf oder seien eben „irr”. Damit verbunden war die Vorstellung, dass man in so einem Fall gar nichts unternehmen könnte, dass man nicht bloss unheilbar krank, sondern eben mit einem Dachschaden zur Welt gekommen sei. Aus dieser Erfahrung heraus verband ich früh schon jede Individualität mit einer Abnormität, wenn ich wirklich ich war und somit auch unterschieden von den anderen, so lief ich Gefahr, „irr” oder „ver-rückt” zu sein.

Als ich gefragt wurde, ob ich zu Ihnen über „nichtlineare Lebensläufe” reden würde, erinnerte ich mich dieses Selbstbildes von Irresein. Deshalb wohl auch der Gedanke an eine Rede, die ich vor sieben Jahren, auch hier in Luzern, gehalten habe. Sie ist in meiner vom Zytglogge-Verlag herausgegebenen Textsammlung nachzulesen. Ihr Titel: Ein irrer Blick aufs Irresein. Ich schöpfe aus dieser Rede für das, was ich Ihnen heute von mir erzählen will. Ich liefere Ihnen ein paar Stichworte zu meiner eigenen nichtlinearen Biografie und verknüpfe damit Reflexionen, die um die Stichworte „irr” und „verrückt” kreisen.

Es gibt Leute, die sagen, meine über sechzig Filme, die ich im Laufe der letzten 26 Jahre gedreht habe, seien allesamt Selbstporträts. Ich nehme das mehr als Kompliment denn als Kritik zur Kenntnis. Ich bin der Meinung, ein Autor dürfe sich nicht hinter seinen Filmen verstecken. Etwas zugespitzt formuliert liesse sich sagen: Nur das, was ich im anderen als eigene Wahrheit entdecke, kann ich an mein Publikum weitergeben. In der mir liebsten Szene aller meiner Filme, im Schluss von „Tonis Träume”, führt mich der geistig behinderte Toni richtiggehend vor; er zeigt mir etwas von mir, von meinem alltäglichen Irresein. Damit vermittelt Toni auch den Zuschauerinnen und Zuschauern etwas über ihr eigenes Nicht-angepasst-sein, über das Disfunktionale in uns allen, aber auch über die phantastischen, kreativen Seiten des Irrens.

Gehe ich meine vielen Porträts durch, so erkenne ich leicht: Es waren grundsätzlich nicht die Erfolgreichen, die Angepassten, die ich ausgewählt habe. Es waren auffällig oft gestrauchelte Menschen, Menschen die anstiessen, die Widerstand leisteten, die litten, die sich selbst als ausserhalb stehend erlebten. Darunter waren Menschen, die man früher Dorftrottel genannt hätte. Dorftrottel waren zu ihrer Zeit in die Gemeinschaft integriert, man kannte und schätzte sie in ihrer Andersartigkeit. Ohne sie hätte dem Dorf etwas gefehlt. Das Bild ist vielleicht ein Klischee, es ist mir dennoch wertvoll. Ich liebe die Geschichten vom Narren am Hofe, der Wahrheiten sagen durfte, die für andere tabu waren; mir kommt der Spruch in den Sinn von den Kindern und den Wahnsinnigen, die ihre Sicht der Welt ungefiltert und deshalb wahrhaft äussern. Auf mich selbst bezogen: Ich irre auch, wir alle irren, gelegentlich sogar zu unserem Nutzen. Und letztlich irren wir doch alle durchs Leben. Das Verrückte dabei: Ich habe mich nicht bloss damit abgefunden, ich geniesse es geradezu, das Leben und seine Wahrheiten auf Irrwegen täglich neu zu entdecken und mehr noch: das Leben in seiner Unfassbarkeit auch täglich neu zu erfinden.

Zurück zu meinem persönlichen nichtlinearen Lebenslauf. Meine Jugend als eines von vier Kindern eines bescheidenen, aufrechten reformierten Postbeamten und einer ehrgeizigen, aber vom Leben und seinen Zwängen eher enttäuschten Katholikin, war voller Lust und mehr noch voller Verzweiflung. Ich war das Sorgenkind, in welchem der Vater den Prahler sah und von dem die Mutter, irrend, wenn nicht einen Papst, so doch mindestens einen künftigen Bischof für die Ehrenrettung ihrer Familie erwartet hatte. Nichts von alledem, ich war von klein auf unangepasst. Irgendwie schaffte ich die Matur, schrieb mich an der juristischen Fakultät der Universität Zürich ein, schwänzte die Vorlesungen, trieb mich herum, revoluzzte als klassischer 68er und wurde schliesslich ein kiffender und trippender Hippy. Als mich eines Tages ein Freund im Tram darauf ansprach, weshalb ich mich denn immer noch Semester für Semester an der Uni einschreibe, ich wisse doch selbst, dass ich nie mehr abschliessen würde, meldete ich mich für die Lizentiatsprüfungen an und schloss mit einem absoluten Minimalaufwand mit einem cum laude als einer der ersten meiner Maturklasse das Studium ab. Ich war der Meinung, ich hätte noch nie so viel dumme Menschen auf einem Haufen erlebt wie an der juristischen Fakultät, lauter Zürichberg- und Goldküstensöhne, die vom Leben keine Ahnung hätten. In meiner Abwehr dieser Welt der Reichen versuchte ich mich nach der Uni als Handlanger, als einfacher Arbeiter, bis ich erkannte, dass ich einerseits ein ziemlich unfähiger Prolet war und dass ich zum andern mein Geld auf andere Weise doch einfacher verdienen könnte. Also ging ich als Aushilfslehrer jobben, bis ich eines Tages merkte: Für mein weiteres Leben fehlte mir ein Beruf, der mir nebst einem Einkommen auch ein bisschen Freude bereiten sollte. Ich beschloss, Journalist zu werden. Ich liess mich als freier Gerichtsberichterstatter akkreditieren und schrieb mit einigem Erfolg für verschiedene Zeitungen Reportagen, vor allem von Geschworenenprozessen. Im Zürcher Gerichtsberichterstatter-Klüngel war ich der erste, der nicht mit dem Staatsanwalt zu Mittag speiste, sondern mich dem Verteidiger anschloss, entsprechend war dann die Perspektive meiner Berichte eine andere als die der eingesessenen Gerichtsjournalisten.

Nach einem Jahr auf einer Nachrichtenagentur verdingte ich mich, gut bezahlt, als Produzent beim „Blick”. Ich hatte schon nach drei Tagen Krach und stand drei Monate später auf der Strasse. Ein Versuch mit Reports für die damals noch seriöse „Weltwoche” war zwar vom Renommée her erfolgreich, finanziell aber eine Pleite. Ich wurde als freier Journalist so schlecht bezahlt, dass ich trotz des Aufwands, den ich betrieb, nicht überleben konnte. Also stand ich, nach einer kurzen Zeit in einem für meine damaligen Verhältnisse hoch bezahlten Job beim „Blick”, unvermittelt auf der Strasse, ohne Arbeitslosengeld übrigens; eine Versicherung war damals noch nicht obligatorisch. Ich schraubte meine Ansprüche sukzessive herunter, schrieb erfolglos Bewerbungen als Redaktor von Hauszeitungen an zwei Banken – man lehnte mich ab, weil ich im Cincera-Archiv chiffriert war, was ich erst Jahrzehnte später erfahren habe – , ich versuchte mich als Taglöhner, wartete morgens um halb sechs Uhr auf einer Brücke im Zürcher Industriequartier darauf, dass man mich für einen Tag als Hilfsarbeiter engagierte und anerbot mich, morgens um vier Uhr im Gemüse-Engrosmarkt im Stundenlohn Eisenbahnwagons auszuräumen. Das ging über Monate mehr schlecht als recht. Was die schrecklichste Erfahrung war dabei: Mein Selbstbewusstsein schrumpfte zusehends, und eines Tages hatte ich das Gefühl, ich sei nichts wert in dieser Welt. Es ging mir psychisch und physisch immer schlechter.

Ich weiss heute noch nicht genau, welche Kräfte ich damals mobilisieren konnte, um mich aus dem Loch wieder hochzuziehen. Jedenfalls landete ich auf dem Sekretariat eines linken Rechtsanwaltes als Schreibhilfe, bis dann nach einem halben Jahr ein Fernsehredaktor sich meiner entsann und mich fragte, ob ich nicht bei SF DRS für die Redaktion „Blickpunkt Region” schweizerdeutsche Nachrichten verfassen möchte. Von Stund an hatte ich einen gut bezahlten Vollzeitjob, der mich faktisch aber zeitlich und leistungsmässig höchstens halb forderte. Die Energien konzentrierten sich damals vor allem auf die täglichen mehrstündigen Jassrunden und ausgedehntes Pétanque-Spiel.

Doch die Lustbarkeit dauerte nicht allzu lange, das Fernsehen steigerte schon damals seine Produktivität, und die schweizerdeutschen Meldungen wurden abgeschafft. Ich hatte die Wahl, zur Tagesschau zu wechseln oder aber für die Sendung „Blickpunkt” kleine Filmbeiträge zu realisieren. Ich entschied mich fürs Filmen, doch der damals zuständige Redaktionsleiter Felix Karrer meinte nach zwei, drei Filmchen von mir, ich würde das nie lernen, ich solle mich doch nach etwas anderem umsehen. Ich stürzte wieder einmal in eine Krise, „strampelte” aber weiter und ein halbes Jahr später hatte ich mich zu einem verlässlichen Filmbeitragslieferanten gemausert, ja, ich wurde so gut in meinem neuen Metier, dass mich 1980 der gleiche Karrer, der zwischenzeitlich eine neue Dokumentarfilmsendung aufgebaut hatte, für die Realisierung der prestigeträchtigeren längeren Filme engagierte. Danach stolperte ich von einem Erfolg zum anderen und erhielt bereits 1987 den Zürcher Filmpreis für mein Gesamtwerk.

Heute, Jahrzehnte später, führt mich die Reflexion über meine „nichtlineare Biografie” zurück zum Selbstbild meiner Jugend. Ich sah mich als „Irren”, als „Ver-rückten”. Suche ich ein positives Bild für den Spinner von damals, so fällt mir der Narr ein, aber auch der Dorftrottel, einer, der anders und trotzdem integriert ist.

Im vorindustriellen Zeitalter, als das Leben wahrscheinlich für die meisten Menschen in unseren Breiten in mancherlei Hinsicht härter war, war der Anspruch an gesellschaftliche Anpassung der einzelnen ein anderer. Mythische tradierte Werte und nicht die industrielle Arbeitsorganisation bestimmten das soziale Zusammenleben. Andererseits gab es ausser Kerker und Hinrichtungen für die Mächtigen im Lande kaum Möglichkeiten der Aussonderung. Das ist heute grundlegend anders. Heute wird ein jeder und jede, die nicht primär als Produzent oder sekundär als Reproduktionsorgan in den Arbeitsprozess integrierbar ist, ausgesondert: Wir haben nebst einer Vielzahl unterschiedlicher Gefängnisse Krippen, Horte, Jugendheime, Spitäler, psychiatrische Kliniken, Altersheime, Pflegeheime und vieles mehr. Alles Einrichtungen, deren Wert ich grundsätzlich nicht in Frage stelle. Sie haben aber, summa summarum, einen unerhört tiefgreifenden gesellschaftlichen Effekt: Wer nicht integrierbar ist, wird ausgesondert. Und damit entzieht sich im Alltag unserem Auge zunehmend all das, was nicht der Norm entspricht.

Der Anpassungsdruck steigt stetig. Das spiegelt sich in meiner Biografie, es spiegelt sich aber auch in der Entwicklung der Fernsehprogramme. Als wir 1980 mit unseren Dokfilmen anfingen, deklarierten wir: Wir wehren uns gegen den Trend. (Mit „wir” meine ich Felix Karrer und mich). Als alle anderen immer schneller schnitten, immer kürzere Einstellungen, immer wildere Kamerabewegungen und die verrücktesten Trickeinstellungen aneinander reihten, wurden wir langsamer, arbeiteten wir mit langen Einstellungen und mit Fixobjektiven. Dafür wagten wir uns an ungewohnte Inhalte, wir zeigten gewöhnliche Menschen in alltäglichen Situationen, filmten auf den ersten Blick Alltägliches, bohrten aber so tief, dass dabei die Sensationen des Alltags sichtbar wurden. Wir zeigten Emotionen und gaben uns selbst in unsere Filme mit ein. Wir stellten uns bloss, wenn wir damit unseren Standpunkt, unseren Blickwinkel sichtbar machen konnten.

Ich will nun nicht eine vergangene Zeit glorifizieren und uns zu Pionieren hoch stilisieren. Doch wenn ich heute meine Filme aus den 80-er Jahren anschaue, so spüre ich deutlich: Nicht bloss das Fernsehprogramm als Ganzes, auch ich selbst habe mich in den Jahren danach, in den 90-ern, einer schleichenden Anpassung unterzogen. Meine Filme sind harmloser geworden, stromlinienförmiger. Sie bedienen sich vielleicht stärkerer Reize, doch sie bohren nicht mehr so tief. Ich riskiere in den letzten Jahren entschieden weniger, entblösse mich selbst kaum mehr. Meine ach so viel beschworene Abnormität hat sich abgelebt, ich bin zum Produzenten einer Dutzendware verkommen. Klar können Sie heute noch nach drei Minuten sagen: Dieser Film ist von Riniker, doch mir kommt es gelegentlich so vor, als würde ich bloss mich selbst zitieren, meinen Filmen quasi nebst dem Stationslogo noch ein eigenes Märklein aufkleben.

Ist das so, weil ich einfach älter geworden, weil meine kreative Potenz nachgelassen hat? Nein, das glaube ich nicht. Es ist vielmehr ein Normierungsdruck, der mit der erhöhten Produktivität auch das Fernsehen erfasst hat, genau so, wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche davon betroffen sind. Darum habe ich auch beschlossen, SF DRS zu verlassen und trotz ökonomischer Risiken nochmals etwas Neues zu versuchen. Ich werde mich an einen Spielfilm wagen und an einen Kinodokumentarfilm. Ich will es noch einmal wissen.

Im Ganzen habe ich Glück gehabt. Ich habe einen Weg gefunden, mich trotz beschränkter Anpassungsfähigkeit zu behaupten, ja sogar mit meiner Abnormität Erfolg zu haben. Doch ich bin hierin wohl eher eine Ausnahme. Ich bin mir auch ganz und gar nicht sicher, dass meine nichtlineare Biografie einen ähnlich positiven Verlauf genommen hätte, wenn ich zwanzig Jahre später geboren worden wäre. Ich fand noch Freiräume vor, die heute entschieden enger geworden sind. Ich konnte mir mit meinem Verrücktsein noch einen Namen schaffen. Ich zweifle daran, dass die Bedingungen für heutige Jugendliche vergleichbar sind mit jenen, die meine Entwicklung zugelassen haben.
Ich will Sie mit Gemeinplätzen verschonen, nenne bloss noch ein paar Stichworte, die meines Erachtens die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte bestimmt und damit viele Lebensläufe normiert haben. Das ist beispielsweise die elektronische Revolution, die Entwicklung hin zur Informations- und Kommunikationsgesellschaft mit einem exponentiell wachsenden Datenmeer, mit der überhandnehmenden Registrierwut. Grossverteiler wissen, wer was wann konsumiert, der Staat weiss, wer wieviel verdient, die Krankenkassen und Arbeitgeber wissen, wer wann und wie oft krank ist, die Telecomkonzerne wissen, wer wann mit wem spricht etc. etc. Wir sind definierbar, unser Verhalten ist in Form eines Strichcodes darstellbar geworden. Frage: Wissen Sie, in wie vielen und in welchen Dateien Sie registriert sind? Woher welche Firma, die Sie über direct-mailing anschreibt, Ihre Adresse erhalten hat? Wer woher Ihre e-mail-Adresse hat? Wir alle führen neben unserem realen Leben ein virtuelles, in unzähligen Datenbanken. In gewisser Weise sind wir damit vieler unserer individuellen Geheimnisse beraubt worden.

Damit einher geht, dass wir uniformer werden. Die Jugend isst heute fast auf der ganzen Welt die genau gleichen Hamburger und trinkt dazu Coke. Wir Älteren schlürfen Chardonney und Cabernet-Sauvignon, die zwar gut sind, von denen sich aber nicht mehr sagen lässt, ob sie in Italien, Südafrika, Chile oder in Kalifornien gewachsen sind.

Alles Abnorme verliert zusehends seine Existenzberechtigung. Schon heute verhindern genetische Frühdiagnosen zumindest in den industrialisierten Ländern, dass Menschen mit geistigen oder körperlichen Abnormitäten geboren werden. Damit wird auch klar der Anspruch erhoben zu wissen, was die Norm ist, was gut ist und was schlecht. Doch, so möchte ich fragen: Wird unsere Vorstellung einer demokratisch bestimmten Gesellschaft nicht zunehmend zur Illusion, wenn unkontrollierbare globale Kräfte alle Nuancen unseres Lebens bestimmen? Wer bestimmt denn da eigentlich? Wer bestimmt denn, was Leiden ist und wieviel Frust zu eines jeden Leben gehört? Wer „designt” das Glück? Und ist dies Glück tatsächlich für alle das gleiche?
Eine Frage, die sich für mich hier anschliesst, heisst: Mit welchen Mitteln soll Glück erreicht werden? Und wo finde ich Sinn? Die klassischen Sinnstifter, die Kirchen, haben ausgedient. An ihre Stelle sind Fundamentalismen getreten, mit ihren offensichtlichen Gefahren, mit der fanatisierten Intoleranz und mit dem mörderischen Terror. Das sind einerseits Folgen von weltweiter Ungerechtigkeit, andererseits aber auch von emotionalen Defiziten der Informationsgesellschaft.

Dem Austausch echter Gefühle, nicht zu verwechseln mit dem (einseitigen) Konsum emotionaler Reize, wird weniger Zeit und weniger Raum zugestanden. Wie viele Insassen einer psychiatrischen Klinik leiden an einem Defizit an zwischenmenschlicher Zuwendung? Wie vielen von ihnen ginge es unendlich besser, wenn sie Zuneigung aus ihrem Lebensumfeld spüren könnten? Wie viele Psychiater und Psychologen können ein Lied davon singen, dass sie eigentlich nur das ersetzen müssen, was von einer funktionierenden Gesellschaft ganz natürlich beansprucht werden könnte: Ein menschliches Ohr, ein Gefühl, dass man sich gegenseitig etwas wert ist und dass mein Schicksal meine Nächsten etwas angeht. Und weil kein Gesundheitssystem der Welt leisten kann, was Familie, Nachbarschaft und berufliches Umfeld an menschlicher Wärme und Anteilnahme bieten sollten, wird dann auf Psychopharmaka als Notbehelf zurückgegriffen.

Ich bin kein verschworener Chemiefeind. Ich kenne, weder aus der Geschichte noch in der Gegenwart, keine Gesellschaft, die nicht in irgendwelcher Form einen Umgang mit natürlichen oder chemischen Drogen pflegte, sei das nun mit Alkohol, Marihuana, Kokain, Opiaten oder einer reichen Palette an Psychopharmaka. Jede Gesellschaft hat da den ihr entsprechenden Umgang geregelt, mit Tabus und den entsprechenden Tabubrüchen. Dennoch glaube ich nicht, dass irgendeine Pille auf Dauer beispielsweise die Liebe ersetzen kann.

Als ich den Film mit dem geistig behinderten Toni drehte, musste ich einmal vor der Behindertenwerkstatt in Stans eine gute Stunde warten. Ich werde diese Stunde nie vergessen. Ein Jüngling mit Down-Syndrom unterhielt sich mit mir. Er erzählte diverse Geschichten von einer Frau. Irgendwann realisierte ich, dass er nicht stets von derselben Frau sprach, sondern dass er, ohne es klar zu machen, von der Mutter zur Grossmutter, von da zur Schwester, zur Tante und zur Nachbarin sprang. Immer wieder, wenn ich merkte, dass er in seiner Geschichte von einer Figur zur anderen wechselte, wies ich ihn darauf hin. Dann lachte er ein dermassen ansteckendes Lachen, dass wir bald einmal beide nur noch je unseren Bauch hielten und uns vor Lachen krümmten. Hätte uns jemand zugeschaut, hätte er sich sagen können: Zwei total Verrückte – oder zwei äusserst glückliche Menschen.

Ist jeder unnütz, der nicht leistungsoptimiert, nicht beruflich erfolgreich, nicht sportlich, nicht schön und über 30jährig ist? Wir haben das Klischee von den weisen Alten umgewandelt in das Klischee von den verbohrten, verdummten Greisen. Ich kenne weise Alte, und würdige sie dafür. Ich gestehe den Irren eine irritierende Sicht zu und möchte das Abnorme gelten lassen. Im Klischee vom integrierten Dorftrottel sehe ich mehr als einen nostalgischen Blick zurück, ich erblicke darin ein Bild für eine Welt, die es zu erstreben gilt: nämlich eine Welt der Toleranz.

Ich träume längst nicht mehr von einer idealen Gesellschaft, doch das heisst noch lange nicht, dass ich blind sein muss für die Ungeheuerlichkeiten unserer Zeit. Die globalisierte Wirtschaft betreibt eine Form von Gleichschaltung, welche die düstersten Auswüchse des realen Sozialismus übertrifft. Und darin liegt meines Erachtens etwas abgründig Krankhaftes, etwas im unguten Sinne Verrücktes.

Ich habe das Privileg, in einem sogenannt kreativen Beruf zu arbeiten. Ich bin dabei täglich auf Mitarbeiter angewiesen, von denen ich erwarte, dass sie kreativ mitdenken. Ich erlebe dabei täglich, dass die Unangepassten, die Schwierigen, die in ihrem Leben vielleicht mehr gelitten haben als andere, die kreativsten Leistungen erbringen. Das Neue wächst immer nur aus den Brüchen, aus den Normübertretungen. Das Genie, der Dorftrottel, der Hofnarr, die Alten, die Kinder: Sie sind es, die Grenzen überschreiten, die das Neue vorbereiten und einen Fortschritt garantieren. Gebt dem Irren in uns und den Irren um uns herum das Lebensrecht zurück!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


© Paul Riniker 2005

zurück