zurück
Druckfassung(pdf)




Darstellung von Menschen in Not


ZEWO-Tagung Frühjahr 2010


(Dieser Vortrag enthält Teile der beiden anderen Vorträge – „Lernen in anderen Kontexten“ und „Nichtlineare Lebensläufe“)

von Paul Riniker


Sehr geehrte Damen und Herren,

Über die Darstellung von Menschen in Not habe ich Ihnen keine wissenschaftliche Abhandlung anzubieten, sondern bloss meine eigene Erfahrung und die Schlüsse, die ich persönlich für mich daraus gezogen habe. Ich drehte fürs Schweizer Fernsehen 70 Dokumentarfilme. Die meisten davon waren Porträts von Menschen, oft von Aussenseitern, etliche von Menschen in Not.

Nach einem Gedanken zu Not generell will ich mich an einem Beispiel über die Art auslassen, wie ich mich in meinen Filmen mit den Porträtierten identifiziere. Es folgen Überlegungen zum Dokumentarischen an sich, über Wahrnehmung und Inszenierung. Und schliesslich rede ich über die Problematik der Länge eines dokumentarischen Porträts und zeige Ihnen dazu ein paar für einige von Ihnen vielleicht provokative Kürzestporträts. Danach schliesse ich mit einem kleinen Resumé.

Als ich den Titel meines Vortrags in den Compi tippte, fragte ich mich plötzlich: Gibt es denn Menschen, die keine Not leiden? Die einfach nur glücklich sind? - Für mich war das Buch von Kertész, „Roman eines Schicksallosen“, ein Schlüsselerlebnis: Wie das Kind darin das Leben im Konzentrationslager als Normalität nahm, wie das sein Ausgangspunkt und sein Massstab für Glück und Unglück war, das vermittelte mir eine existentielle Erkenntnis. Mit einem anderen Bild gesagt: Wie viel mehr bedeutet einem hungernden Kind eine Schale Reis als einem Millionär ein neues Auto? - Not und Leid sind relativ, sie messen sich immer an der subjektiven Normalität des einzelnen, die Betroffenen registrieren die Bewegung hin zum Besseren oder zum Schlechteren.

Meine Filme handelten vornehmlich von Menschen in psychischer Not. Auch wenn sie primär vielleicht körperlich krank waren, AIDS hatten oder Krebs, ihr Leiden war psychisch. Aber es leiden auch gesunde, satte und von Kriegen verschonte Menschen.

Die konkreten Beispiele von Menschen in Not, auf die ich heute eingehe, sind geistig Behinderte, politisch korrekter gesagt: Menschen mit einem kognitiven Defizit. Das hat vielleicht damit zu tun, dass mein Film „Tonis Träume“ mit dem geistig behinderten Bergbauernsohn immer noch einer meiner liebsten Filme ist. Toni litt, oft und stark. Dennoch strahlte er auch immer wieder Lebensfreude aus. Er forderte mich heraus, aber er bot mir auch viel. Ich fragte mich, weshalb ich ihn so gut verstand. Meine bisherige Erfahrung war, dass ein Film gelang, wenn ich im Porträtierten einen Teil meiner selbst entdeckte. Und das Irre am Bauernsohn, das kannte ich, wenn auch in einer schwächeren Form, aus meiner eigenen Jugend.

Wenn ich als Kind emotional nicht so reagierte, wie man es von mir erwartete, so fragte man mich und fragte ich auch bald mich selbst: „Spinnsch ächt jetz?”. Ich hatte Angst, dass ich nun auch einer von denjenigen sei, von denen man sagte, sie tickten nicht richtig im Kopf oder seien eben „irr”. Damit verbunden war die Vorstellung, dass man in so einem Fall gar nichts unternehmen könnte, dass man nicht bloss unheilbar krank, sondern eben mit einem Dachschaden zur Welt gekommen sei. Aus dieser Erfahrung heraus verband ich früh schon jede Individualität mit einer Abnormität: Wenn ich wirklich ich war und somit auch unterschieden von den anderen, so lief ich Gefahr, „irr” oder „ver-rückt” zu sein.

Es gibt Leute, die sagen, meine siebzig Filme, seien allesamt Selbstporträts. Ich nehme das mehr als Kompliment denn als Kritik zur Kenntnis. Ich bin der Meinung, ein Autor dürfe sich nicht hinter seinen Filmen verstecken. Etwas zugespitzt formuliert liesse sich sagen: Nur das, was ich im anderen als eigene Wahrheit entdecke, kann ich an mein Publikum weitergeben. In der mir liebsten Szene, am Schluss von „Tonis Träume”, führt mich der geistig behinderte Toni richtiggehend vor; nachdem er zwei Stunden auf einem Synthesizer improvisiert hatte, zeigte er mir etwas von mir, von meinem alltäglichen Irresein. Ich zeige Ihnen die Szene.

Vorführung Schluss von „Tonis Träume“ (5’, *.wmv 270MB)
alternative Datei *.VOB (170MB)
oder (am schnellsten) über YouTube

Es waren grundsätzlich nicht die Erfolgreichen, die Angepassten, die ich für meine Filme ausgewählt hatte. Es waren auffällig oft gestrauchelte Menschen, Menschen die anstiessen, die Widerstand leisteten, die litten, die sich selbst als ausserhalb stehend erlebten. Darunter gab es Menschen, die man früher Dorftrottel genannt hätte. Dorftrottel waren zu ihrer Zeit in die Gemeinschaft integriert, man kannte und schätzte sie in ihrer Andersartigkeit. Ohne sie hätte dem Dorf etwas gefehlt. Das Bild ist vielleicht ein Klischee, es ist mir dennoch wertvoll. Ich liebe die Geschichten vom Narren am Hofe, der Wahrheiten sagen durfte, die für andere tabu waren; mir kommt der Spruch in den Sinn von den Kindern und den Wahnsinnigen, die ihre Sicht der Welt ungefiltert und deshalb wahrhaft äussern. Auf mich selbst bezogen: Ich irre auch, wir alle irren, gelegentlich sogar zu unserem Nutzen. Und letztlich irren wir doch alle durchs Leben. Das Verrückte dabei: Ich habe mich nicht bloss damit abgefunden, ich geniesse es geradezu, das Leben und seine Wahrheiten auf Irrwegen täglich neu zu entdecken und mehr noch: das Leben in seiner Unfassbarkeit auch täglich neu zu erfinden. Es macht mir Spass, mir selbst und den Zuschauern etwas über unser eigenes Nicht-angepasst-sein aufzuzeigen, über das Dysfunktionale in uns allen, aber auch über die phantastischen, kreativen Seiten des Irrens.

Das Abnorme verliert zusehends seine Existenzberechtigung, oder es hat sie bloss noch als Amusement für die sogenannt Normalen. Heute verhindern genetische Frühdiagnosen in den industrialisierten Ländern, dass Menschen mit geistigen oder körperlichen Abnormitäten geboren werden. Damit wird der Anspruch erhoben zu wissen, was die Norm ist, was gut ist und was schlecht. Als ich den Film mit dem geistig behinderten Toni drehte, musste ich einmal vor der Behindertenwerkstatt in Stans eine gute Stunde warten. Ich werde diese Stunde nie vergessen. Ein Jüngling mit Trisomie 21 unterhielt sich mit mir. Er erzählte diverse Geschichten von einer Frau. Irgendwann realisierte ich, dass er nicht stets von derselben Frau sprach, sondern dass er, ohne es klar zu machen, von der Mutter zur Grossmutter, von da zur Schwester, zur Tante und zur Nachbarin sprang. Immer wieder, wenn ich merkte, dass er in seiner Geschichte von einer Figur zur anderen wechselte, wies ich ihn darauf hin. Dann lachte er ein dermassen ansteckendes Lachen, dass wir bald einmal beide nur noch je unseren Bauch hielten und uns vor Lachen krümmten. Hätte uns jemand zugeschaut, hätte er sich sagen können: Zwei total Verrückte – oder zwei äusserst glückliche Menschen.

Ist jeder unnütz, der nicht leistungsoptimiert, nicht beruflich erfolgreich, nicht sportlich, nicht schön und nicht jung ist? Ich gestehe den Irren eine irritierende Sicht zu und möchte das Abnorme gelten lassen. Im integrierten Dorftrottel sehe ich mehr als ein nostalgisches Klischee, ich erblicke darin ein Bild für eine Welt, die es zu erstreben gilt: nämlich eine Welt der Toleranz.

Ich habe das Privileg, in einem sogenannt kreativen Beruf zu arbeiten. Dabei bin ich täglich auf Mitarbeiter angewiesen, von denen ich erwarte, dass sie kreativ mitdenken. Es sind die Unangepassten, die Schwierigen, jene, die in ihrem Leben vielleicht mehr gelitten haben als andere, die hier die kreativsten Leistungen erbringen. Das Neue wächst immer nur aus den Brüchen, aus den Normübertretungen. Das Genie, der Dorftrottel, der Hofnarr, die Alten, die Kinder: Sie sind es, die Grenzen überschreiten, die das Neue vorbereiten und einen Fortschritt garantieren. Gebt dem Irren in uns und den Irren um uns herum das Lebensrecht zurück!

Doch nun zurück zum Thema, speziell zum Dokumentarfilm. Filmen heisst, eine für das Publikum konsumierbare Form suchen für das, was ich wahrnehme und was in meinem Kopf abläuft. Meine Botschaft wird dabei bestimmt durch die Wahl des Kamerastandpunktes, des Lichtes, der Belichtung, der Cadrage, des Schnittes, die Wahl der Töne, des Kommentars, der Mischung, des Zeitpunktes der Ausstrahlung, des Senderahmens. Ich schaffe damit ein künstliches Produkt, das die von mir wahrgenommene Realität wiedergeben soll. Es nähert sich im Idealfall meiner Wahrnehmung an, doch es ist nicht die Wahrnehmung selbst, sondern ein Bild davon. Leider ist es schon fast ein allgemeingültiges Prinzip geworden, dass dabei die Spuren des Prozesses hin zu diesem Bild verwischt und Hinweise darauf unkenntlich gemacht werden. Dem habe ich entgegen zu steuern versucht. Ich wollte, dass bei meinen Filmen jederzeit erkennbar ist: Das ist nicht die absolute Wahrheit, sondern meine subjektive Wahrheit, um deren Darstellung ich ringe.

Auch beim Roman oder beim Spielfilm suchen Leserinnen, Leser und Zuschauer die Wahrheit, und auch hier finden sie „bloss” die individuelle Wahrheit des Autors. Sie kann jedoch in Beziehung gesetzt werden zur eigenen Lebenserfahrung, zur eigenen, individuellen Wahrheit. Und niemand wird bestreiten, dass Romane und Spielfilme nebst Traum und Phantasie auch Zugang sind zur Welt, Wahrnehmung echten Lebens. Die Umsetzung zersetzt die Wahrheit nicht, sondern sie spitzt sie zu, verallgemeinert sie, differenziert sie und macht die Wahrnehmung zum geistig-sinnlichen Genuss.

Wer sich nun einen Dokumentarfilm anschaut, erliegt meist der Faszination des sogenannt Authentischen. An einen Dokumentarfilm stellt kaum jemand die gleichen dramaturgischen Anforderungen wie an einen Spielfilm. Allein die Tatsache, dass es da um das sogenannt wirkliche Leben geht, schafft schon eine erhöhte Spannung; denn das Dokumentarische wird als das Wirkliche genommen.

Nun, als Dokumentarfilmer beim Fernsehen profitierte ich ja ganz gerne von diesem Bonus. Und ich erliege auch selbst als Zuschauer immer wieder und gerne der speziellen Faszination des „Authentischen”. Doch hat mir die Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit die Erkenntnis gebracht: Auch ein Dokumentarfilm ist inszeniert – und damit Fiktion. Dies war mir lange Jahre nicht bewusst, und erst eine Serie von zum Teil schmerzlichen Erfahrungen brachte mich zu dieser Überzeugung.

In meinen dokumentarischen Anfängen redete ich mir ein, dass das, was ich filmte, die Realität sei. Ich dachte, nur wer nahe an die Leute heran geht, sich und die eigenen Vorstellungen immer wieder in Frage stellt und stets offen bleibt für alles, was vor Kamera und Mikrofon abläuft, nur der schafft echt Dokumentarisches.

Ich versuchte immer konsequenter, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Nur ja nichts stellen, nichts inszenieren. Ich machte es mir zur Maxime, nie mit vorformulierten Fragen an die Leute heran zu treten, sondern das offene Gespräch zu suchen. Dafür prägte ich den Begriff von der „Magie des Augenblicks”, den es nur zu spüren und einzufangen gelte. Ich deklarierte: Jeder Mensch hat sein Geheimnis, das – berührt man es – diesen Menschen liebenswert macht. Ich entwickelte mich geradezu zum Fetischisten des Unverfälschten, Direkten. Pausen in den Gesprächen, wie sie in einem guten Gespräch im Alltag üblich sind, wurden zu Markenzeichen meiner Arbeit. Wir nahmen auch mangelhaftes Licht in Kauf, wenn wir dafür ein realeres Ambiente bewahrten und unsere Protagonist(inn)en dafür weniger gehemmt waren. Handkamera und plan séquence markierten Echtheit.

Für mich war klar: Dokumentarisch hiess uninszeniert. Doch dann geschahen im Laufe der Jahre Dinge, die mein Verständnis von Dokumentarfilm, von Unmittelbarkeit und Echtheit, erschütterten. Ich machte Erfahrungen und Lernschritte.

1981 arbeitete ich an meinem dritten Dokumentarfilm, an „Krüppel und Fee”, einem Doppelporträt eines körperlich schwer behinderten Studenten und der Generalsekretärin der Stiftung Pro Infirmis. Wir drehten das Gespräch mit dem Studenten in seiner Wohnung. Vorweg erklärte dieser, es sei denkbar, dass jemand aus seinem Freundeskreis vorbei komme, während wir am Filmen seien. Ich meinte, dass mich ein Besuch nicht störe, nur sollten wir diesen gleich in den Film einbauen. Und weil der Beleuchter während des Gesprächs nichts zu tun hatte, bat ich ihn, währenddessen im Vorraum zu warten und allfällige Besucher aufzufordern, einfach wie sonst auch einzutreten und uns, die Fernsehequipe, zu ignorieren.

Das Gespräch mit dem Studenten dauerte lange. Schliesslich fragte ich ihn, wie er trotz seiner schweren Behinderungen alleine leben könne. Er wies darauf hin, dass sich seine Wohnung im Parterre befinde und ihm Hilfsmittel jeglicher Art die Hausarbeit erleichterten. Ausserdem – und dies sei das Wichtigste – hätte er eine Reihe guter Freundinnen und Freunde, die öfter vorbei schauten, um ihm Einkäufe zu erledigen oder sonstwie behilflich zu sein.

Genau in diesem Augenblick trat eine Freundin ein, die sofort erklärte, sie gehe einkaufen, ob sie ihm etwas mit bringen könne. Es war die vollkommene szenische Illustration des eben Besprochenen.

Ich triumphierte. So machte Filmen Freude! Hätte ich einen Spielfilm gedreht, besser hätte sich das nicht inszenieren lassen. Und alles war mir einfach in den Schoss gefallen. Nur zulassen, geschehen lassen musste man die Dinge, dann kam es gut!

Doch dann kam alles anders, als ich es mir gedacht hatte. Statt dicken Lobes für diese Szene bekam ich überall die gleiche vernichtende Kritik zu hören: „Das war eine plumpe Inszenierung!” Meiner sonst doch so spontan-echten Art zu drehen sei derlei völlig unwürdig.

Dabei hatte ich doch nichts als die Wirklichkeit gezeigt, die reine, uninszenierte Wahrheit! Zum ersten Mal ahnte ich: Was ich wahrnehme, ist nicht dasselbe wie das, was die Zuschauer zu Hause sehen.

Wenn sich später bei anderen Drehs Zufälle dieser Art ergaben, überlegte ich lange, ob und wie sie beim Schneiden in den Film einzubauen wären. Die Freude an solchen Ereignissen war mir vergangen. Ich musste akzeptieren: Auch ein Dokumentarfilm ist Inszenierung. Die von mir wahr genommene Wirklichkeit muss für das Publikum vor dem Fernseher aufbereitet werden.

Sage ich: Dies ist die Wirklichkeit, so meine ich: Das ist die von mir in meinem Kopf gemachte Wirklichkeit. Das heisst: Schon die Wahrnehmung ist eine Inszenierung.

Eine zweite für mich wichtige Erkenntnis war: Zuschauer nehmen nur wahr, was ihren Parametern nicht zuwider läuft. Wenn ich ihnen etwas vermitteln wollte, was ihnen unbekannt und neu war, dann musste ich sie dort abholen, wo sie sich auskannten. Ich versuchte also, sie anzusprechen in einem Bereich, den sie kannten, der ihnen gewohnt vorkam. Dazu bot ich ihnen vor allem die Möglichkeit an, sich in meine Protagonisten einzufühlen, sich mit ihnen zu identifizieren. Wenn das gelang, so waren die Zuschauer plötzlich auch bereit, Neues, Unbekanntes anzunehmen. Im besten Fall bauten sie dann sogar Vorurteile ab.

Ich habe mit langsamen, geduldigen und vergleichsweise langen Filmen die ZuschauerInnen zu berühren versucht. Ich dachte mir, dass meine Absicht, Menschen dazu zu bewegen, etwas von ihrem Inneren preis zu geben, zwingend auch Zeit braucht; und zwar nicht nur beim Drehen, sondern auch im geschnittenen Film. Wollte ich den Protagonisten gerecht werden, so sollten sie sich differenziert darstellen können. Das heisst: Lange, ruhige Einstellungen, Gespräche mit Pausen. Die mediale Realität von heute ist aber eine andere: Kurze, hektische, schnell hergestellte TV-Beiträge haben Konjunktur.

Vor ein paar Jahren fragte mich eine grosse englische Werbeagentur an, ob ich für die Swisscom ganz spezielle Spots drehen würde. Spots sind die extremste Kurzform, in etwa das pure Gegenteil dessen, was ich in den vorangegangenen gut zwanzig Jahren realisiert hatte. Liessen sich meine Grundsätze, meine Ethik auch in Werbespots anwenden? Die Swisscom wollte - quasi als Geschenk an die expo02 - vierzehn 60-Sekunden-Spots. Ich wagte es und drehte sie. Mich interessierte, ob auch in dieser Kurzform so etwas wie ein echtes Porträt zu realisieren wäre.

Bevor ich Ihnen die ersten fünf der Spots zeige, kurz etwas zur Vorgeschichte: Die Auftraggeber hatten in Spots und Inseraten einen Aufruf lanciert. Wer einmal in einem Werbespot eine volle Minute lang irgendetwas am Fernsehen sagen wolle, möge sich mit einer kurzen Beschreibung dessen, was er zu erzählen habe, melden. Mir wurden dann 5'000 Zuschriften und e-mails präsentiert, ich suchte davon 100 aus und telefonierte mit den Verfassern. Danach wählte ich 50 aus, mit denen ich drehte. Schliesslich trafen wir eine Auswahl von 14 Spots, die dann auf allen drei Sendern der SRG zur allerbesten Werbezeit ausgestrahlt wurden. Beim Realisieren dieser Spots lernte ich: Meine Maximen liessen sich auch in Kurzform anwenden. Was ich eingangs über Authentizität und Inszenierung sagte, lässt sich meines Erachtens auch in diesen Kürzestformen belegen. Ich zeige Ihnen die ersten fünf dieser 14 Spots.

Vorführung von fünf Swisscom-Spots (6’, *.wmv 200MB)
oder (am schnellsten) über YouTube

Der nach Liebe suchende geistig Behinderte gab natürlich zu reden. Die Frage: Darf man das?, stand im Raum. Die hatte ich mir natürlich zuvor schon selbst gestellt. Und weil ich den Mann verstand und ihn mochte, weil er etwas ausdrückte, was ich in gewissen Lebensphasen auch hätte in die Welt hinaus schreien können, fand ich es richtig, dass er auch zu Wort kam. Eine Lösung für sein Problem hatte ich ihm nicht anzubieten, auch nicht für alle anderen Menschen in diesen Spots. Aber ich gestand ihm das Recht zu, am Fernsehen über das zu reden, was ihn beschäftigte. Ich glaube nicht, dass ich ihn damit missbraucht habe. Trotz seiner Not: Ich musste nicht über ihn lachen, ich lachte mit ihm.

Zurück zum Thema: Darstellung von Menschen in Not. Ich habe mich stets dem Trend zur Exotik verweigert. Ich suchte nie primär Schockierendes, ich vermied den Knalleffekt. Ich versuchte, zuerst mich selbst und danach auch das Publikum in das darzustellende Erleben mit einzubeziehen. Das heisst, ich suchte in den Porträtierten immer das Verbindende, etwas, das ich aus eigener Erfahrung kannte und somit nachvollziehen konnte. Ich suchte Identifikation. Wenn dann darüber hinaus im dargestellten Schicksal Seiten auftauchten, die mir neu oder fremd waren, so schaute ich mit Empathie darauf, weil ich mich zuvor schon identifiziert hatte. Ich versuchte, auf der gleichen Ebene mit den ProtagonistInnen zu bleiben, nicht auf sie herunter zu schauen. Dass auch die Zuschauerin und der Zuschauer diesen einfühlenden, empathischen Blick übernahmen, das war mein Anliegen.

Ich glaube, diese Haltung bewahrte mich in allen meinen Filmen vor einem Missbrauch der dargestellten Menschen. Ich beraubte sie nie ihrer Würde. All die Sendungen, die ich in den letzten Jahren aufkommen sah, in denen Menschen blossgestellt werden, in denen sie würdelos da stehen, beruhen auf dem Prinzip: Hier die Macher, dort das auszubeutende Menschenmaterial. Ich bin stolz darauf, dass ich nie dieser Haltung verfallen bin.

Gerade weil das Fernsehen in den letzten Jahren zunehmend dem Trend zur Ausbeutung, zum Schockeffekt ohne Verantwortung für die Folgen verfallen ist, wollte ich weg von diesem Medium. Zumindest weg von den Sendezeiten, in denen mit allen Mitteln ein grosses Publikum angesprochen und erreicht werden musste. Darum arbeite ich seit vier Jahren als freier Filmer, als Regisseur und als Produzent. Und die schönste Arbeit meines ganzen Berufslebens schaffte ich letztes Jahr, als Regisseur des Kinospielfilms „Sommervögel“. Es ist - sinnigerweise – eine Liebesgeschichte zwischen einer leicht geistig Behinderten und einem älteren Rocker. Er kommt im Oktober in die Kinos. Ich drehte diese Geschichte mit der gleichen Haltung, mit der ich meine Dokumentarfilme machte. Als kleiner Vorgeschmack auf den Film hier ein kurzer Trailer.


Vorführung Trailer „Sommervögel“ (2’)

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


© Paul Riniker 2010

zurück